Veranstaltungsbericht: 8. Kiezgespräch: Neukölln für Alle

Zu unserem 8. Kiezgespräch waren wir dieses Mal bei den HEROES Neukölln eingeladen, um über das Thema Optionszwang zu sprechen. Das Projekt wurde 2007 von Strohhalm e.V. in Berlin gegründet. Junge Männer aus Ehrenkulturen setzen sich hier gegen die Unterdrückung im Namen der Ehre und für die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen und Männern ein.

Unsere Direktkandidatin Anja Kofbinger und Partizipationssprecherin Susanna Kahlefeld sprachen nach einer kurzen Vorstellungsrunde mit engagierten Jugendlichen und Mitarbeiter_innen des Projekts über die Probleme, die sich vor allem für junge Menschen mit türkischen Wurzeln aus dem Optionszwang ergeben. Mit der Einführung des Rechts auf Mehrstaatlichkeit für EU-Bürger_innen im August 2007 und der Schaffung von Ausnahmeregelungen für einige Nicht-EU-Länder gerät Mehrstaatlichkeit inzwischen zunehmend zur Regel. Dies gilt jedoch nicht für die über 20.000 in Neukölln lebenden Menschen mit türkischem Pass. Über tausend Jugendliche im Bezirk werden vom Optionszwang betroffen sein. Kinder, die in Deutschland geboren werden und mindestens ein nicht-deutsches Elternteil haben, erhalten zunächst beide Pässe und müssen sich bis zu ihrem 23. Geburtstag entscheiden, welche Staatsangehörigkeit sie behalten möchten. Versäumen sie diese Frist, wird ihnen automatisch die deutsche Staatsbürger_innenschaft aberkannt – sie werden zu Ausländer_innen im eigenen Land.

Viele der anwesenden Jugendlichen berichteten von den Problemen, mit denen die sie oder Freund_innen konfrontiert sind. Für Viele bedeutet der Zwang, sich für einen Pass zu entscheiden, eine Zerreißprobe, denn sie fühlen sich beiden Heimatländern zugehörig. Nur einen Pass besitzen zu dürfen bedeutet für sie, nur ihre halbe Identität zu leben. Den Optionszwang empfinden sie als Assimilationszwang, als indirekten Rassismus. Die Erwartungen an sie sind hoch, Anerkennung wird ihnen aber nicht entgegen gebracht. Anstatt sie in der Gesellschaft willkommen zu heißen, dessen Teil sie sind, werden sie durch die derzeitige Einbürgerungspolitik zu Bittsteller_innen gemacht und als Andere definiert.

Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Neukölln noch immer allgegenwärtig, in Bürger_innenämtern und bei Sachbearbeiter_innen, aber auch auf dem Bildungsweg. Unsere Bezirksverordnete Mahi Christians-Roshanai setzt sich seit Jahren für schulische Bildung und interkulturelle Verständigung ein und berichtete von der Stigmatisierung von Schüler_innen nicht deutscher Herkunft im Schulsystem. Noch immer haben wir keine chancengleiche Beschulung.

Der Optionszwang hat nicht nur verfassungsrechtliche Probleme geschaffen, er wirft auch weitere grundsätzliche Fragen auf. Denn er unterstellt, dass ein Mensch mit zwei Pässen und somit zwei 'staatlichen Identitäten' dem deutschen Staat gegenüber nicht ausreichend loyal eingestellt sei, damit eine potentielle Gefahr darstelle und sich deshalb zwischen den beiden Identitäten entscheiden müsse. Immer mehr Menschen in unserem Land haben vielfältige familiäre, kulturelle und religiöse Wurzeln, die untrennbar zu ihnen gehören und eine Bereicherung für uns alle darstellen. Dass der Staat sie dazu zwingen will, einen Teil ihrer selbst zu leugnen, ist absurd. Wir Grünen fordern generell die Akzeptanz von Mehrstaatlichkeit und ein Recht auf echte Partizipation. Es gibt keine Gründe, warum Menschen nicht mehrere Pässe haben sollten.

Bericht von Julia Maria Sonnenburg

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