Noch viel Luft nach oben: “Um die Bürgerbeteiligung zu verbessern, muss aber zuerst der politische Wille da sein”

Die Gedanken des Ehrenamtes und der Selbsthilfe sind im Bezirk seit langem verwurzelt. Daher ist es eigentlich erstaunlich, dass eine Dachorganisation wie das Netzwerk Ehrenamt Neukölln erst im Mai 2008 von 30 Organisationen gegründet wurde und nicht schon früher. Am vergangenen Mittwoch lud das Netz-werk zum Jahresempfang in das Bürgerzentrum Neukölln in der Werbellinstraße. Als Hauptrednerin war die Grünen-Abgeordnete Dr. Susanna Kahlefeld gekommen, die Vorsitzende im Ausschuss für Bürgerschaftliches Engagement im Berliner Landesparlament ist. Auch Bernd Szczepanski (l.), Neuköllns Bezirksstadtrat für Soziales, nahm an der Veranstaltung teil.

An einem der Tische im Bürgerzentrum erzählte Eleni Werth-Marridou, die als Griechin mit einem Deutschen verheiratet ist, vor dem Beginn des Empfangs: “Seit 35 Jahren kümmere ich mich ehrenamtlich um die Griechen in Berlin. Ich habe vor 12 Jahren den griechisch-orthodoxen Friedhof mitgegründet. Heute bin ich im Landesseniorenbeirat. Ich vermittle auch als Sprachlotsin, wenn es Probleme gibt. Neulich wollte eine Griechin ihrer Pflegerin sagen, dass sie mit dem Rollator nicht durch die Tür kommt. Da musste ich helfen. Auch unterstütze ich junge Griechen beim Ausfüllen von Formularen.” Derzeit gebe es nur eine bezahlte Sozialarbeiterin mit 20 Stunden und eine Koordinatorin mit 14 Stunden Arbeitszeit für 8.000 bis 10.000 Griechen in Berlin, berichtete die engagierte Seniorin weiter. “Ich will dafür kein Geld haben. Ich habe genügend Zeit”, fügte sie über ihre Arbeit an und schloss: “Für mich ist es eine Genugtuung!”

Dietrich Schippel (r.), der im Sprecherrat des Netzwerkes Ehrenamt Neukölln den VITA e. V. vertritt und beim Arbeitskreis Berliner Senioren im Vorstand ist, eröffnete den Jahresempfang mit einer kurzen Ansprache. Das Netzwerk sei im Anschluss an eine erfolgreiche Freiwilligenbörse im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt gegründet worden, um die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für das Ehenamt zu verbessern. “Wir wollen in diesem Jahr vielleicht wieder eine Freiwilligenbörse anbieten”, kündigte Schippel an. Im Mai letzten Jahres waren die Mitglieder des Sprecherrates bei Dr. Franziska Giffey (SPD) zu Gast, und am 3. Dezember ehrte die Bezirksbürgermeisterin Mitbürgerinnen und Mitbürger, die ehrenamtlich tätig sind, im Rathaus. Dem Netzwerk gehören die bezirklichen Ableger der freien Wohlfahrtsverbände ebenso als Mitglieder an, wie der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin und die Guttempler Berlin sowie lokale Initiativen wie der Pro Schillerkiez e. V. oder Kirchengemeinden. Auch einem neuen Netz-werkmitglied konnte Dietrich Schippel alles Gute für das gerade begonnene Jahr wünschen: Der Sprecherrat hatte kurz vor dem Empfang der Aufnahme einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die am Lungen-emphysem-COPD erkrankt sind, zugestimmt.

Gastrednerin Susanna Kahlefeld berichtete in ihrer Doppelrolle als Abgeordnete und Vorsitzende des Ausschuss für Bürgerschaftliches Engagement, der im September 2013 ins Leben gerufen wurde: “Es ist zwar nicht unumstritten, aber im Ausschuss sind wir mehrheitlich der Meinung, dass Engagement und Partizipation nicht zu trennen sind! Selbst eine Lesepatin, die ehren-amtlich an einer Schule ist, gestaltet die Schule mit”, stellte Kahlefeld ihr Verständnis von ehrenamtlicher Arbeit vor. Trotz steigender Unzufriedenheit mit den politischen Beteiligungsprozessen sei eine steigende Bereitschaft zum Engagement zu beobachten. Einrichtungen wie der Deutsche Städtetag hätten erkannt, dass die repräsentative Demokratie durch Partizipation bereichert werde. Drei Vorzüge der Bürgerbeteiligung: Erstens kämen bei partizipativ angelegten Planungsprozessen die besseren Ergebnisse heraus. Zweitens erhöhe Beteiligung die Akzeptanz für Entscheidungen, auch wenn sie für die Betroffenen nachteilig seien. Und drittens aktiviere Beteiligung die Bürgerschaft, was zu einer allgemeinen Steigerung des Interesses führe.

“Um die Bürgerbeteiligung tatsächlich zu verbessern, muss aber zuerst der politische Wille da sein”, unterstrich die Politikerin. Hier liege eine Hauptaufgabe der Ausschussarbeit. Es müsse mit den beiden Mythen aufgeräumt werden, dass Jugendliche nicht gesellschaftlich aktiv sein wollten und Migranten kaum ehrenamtliche Arbeit leisten würden. Seit 1 1/2 Jahren seien durch das Engagement in der Flüchtlingsarbeit neue Strukturen und Verbindungen entstanden. Kahlefeld sagte: “Die Situation vor dem LAGeSo hat gezeigt, was ehrenamtliches Engagement leisten kann. Ich hoffe sehr, dass langfristig auch das Engagement in anderen Bereichen von diesem Beispiel Flüchtlinge profitieren kann.” Der Bezirk Neukölln könne bereits heute viel mehr tun, um das Ehrenamt zu fördern. “Warum ist das Link zur Webseite des Netzwerks Ehrenamt Neukölln nur auf der Seite des Sozialstadtrates versteckt und nicht ganz einfach zu finden?” Die Ehrung von ehrenamtlich Tätigen durch Bezirksbürgermeisterin Dr. Giffey sei zwar gut, die repräsentative Feier für Ehrenamtliche in Tempelhof-Schöneberg aber erheblich besser gewesen. Kahlefelds Resümee: “Da ist noch sehr viel Luft nach oben!”

=Christian Kölling= erschienen auf FACETTEN-Magazin, 15. Januar 2016

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