Wahrscheinlich ist es noch nie so schnell von einer zivilgesellschaftlichen Initiative bis zu einer Verfassungsänderung gegangen wie in diesem Fall. Wir werden heute in die Berliner Verfassung ein Bekenntnis zum geeinten, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Europa schreiben. Das ist ein großer Erfolg und freut mich außerordentlich. Die Verfassungsänderung ist ein Erfolg, es freut mich aber auch, dass die Initiative dazu von einem zivilgesellschaftlichen Bündnis kam. Die Kampagne „Europa in bester Verfassung“, organisiert von der Europa-Union Berlin, hat gezeigt, dass Europa in Berlin keine abstrakte Idee, sondern bürgerschaftlich verwurzelt und getragen ist.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN –Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Mein Dank geht an die Europa-Union und das Bündnis, das die Kampagne geführt hat. Einen besseren Einstieg in die Konferenz zur Zukunft Europas, die am 9. Mai gestartet wird, hätte es in Berlin nicht geben können. Mit dieser Verfassungsänderung ist natürlich ein Auftrag verbunden, den wir, das kann ich für meine Fraktion sagen, gerne annehmen. Er lautet, Europa von Berlin aus mitzugestalten.
[Zuruf von Dr.Hans-Joachim Berg(AfD)]
Dafür muss zuerst das Sterben, Töten und Sterbenlassen an den europäischen Außengrenzen beendet werden.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN –Beifall von Raed Saleh(SPD)]
Die Folterlager in Libyen, die Pushbacks der Frontex, das Elend in Lipa, Bosnien, sind eine Schande und eine weitere historische Schuld Europas. Sie stehen in der europäischen Tradition von Sklavenhandel, Kolonialismus, Rassentheorie und Beutekunst.Wir müssen uns auch hier in Berlin als Menschen, die Europapolitik gestalten wollen, klarmachen, dass uns Menschen außerhalb Europas durch die Geschichte hindurch als inhuman und verlogen wahrnehmen. Die sogenannten europäischen Werte sind insofern wirklich nur europäisch, als sie nur für weiße Europäer zu gelten scheinen. Denn selbst, wenn sie ihre kulturellen Wurzeln in Europa hätten – und das ist in dieser Exklusivität falsch–, so wären sie doch zutiefst diskreditiert, weil sie von Europa und den Europäerinnen und Europäern nicht auf alle Menschen angewendet wurden und werden. Dass sie außer Acht lassen, dass Menschenrechte in vielen anderen Kulturen ebenfalls tief verwurzelt sind, wenn auch anders begründet als auf unserem Kontinent, wird zudem als ein Akt des ignoranten Hochmuts angesehen. Europa von Berlin auszugestalten, muss heißen, dass Berlin als Mitglied des Solidarity City Network versucht, Solidarität mit Geflüchteten in einem Netzwerk europäischer Städte zu organisieren. Das könnte ein erster Schritt zu einem offenen Europa sein, einem, das sich nicht gegen den Rest der Welt, sondern in ihr verortet; das Verantwortung für die Krisen und Kriege übernimmt, statt von den dadurch fallenden Rohstoffpreisen zu profitieren; das nicht nur Rohstoffe und Produkte über seine Grenzen lässt, sondern auch Menschen, die hier Schutz suchen, studieren und arbeiten wollen, die hier Familie haben.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Raed Saleh(SPD) und Dr.Clara West (SPD)]
Es ist ausgesprochen schade, dass die Berliner Aufnahmeprogramme in dieser Legislaturperiodewahrscheinlich nicht mehr realisiert werden. Wir können wahrscheinlich weder Menschen aus Syrien und sicher keine Menschen aus den furchtbaren Lagern in Bosnien aufnehmen. Europa, wie es heute politisch verfasst ist, hat vielen Ländern des Kontinents eine lange Phase des Friedens und der zunehmenden Kooperation beschert.
[Zuruf von Jeannette Auricht (AfD)]
Diese Idee des Zusammenwachsens, der Grenzöffnungen und der Solidarität hat ihren Ursprung in der Katastrophe des deutschen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Es ist ein Raum der relativen Sicherheit und der gemeinsamen Entwicklung entstanden, nicht zuletzt durch intensive Friedens- und Versöhnungsarbeit, vorbildhaft zwischen Deutschland und Frankreich.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Raed Saleh (SPD) und Frank Zimmermann (SPD)]
Wir haben hier in Berlin aber auch, nicht weit von hier in der Wilhelmstraße, den Ort, an dem die Afrika-Konferenz stattfand. Dort hat 1884 Bismarck den afrikanischen Kontinent zwischen den großen europäischen Mächten aufgeteilt.
[Georg Pazderski (AfD): Gucken Sie doch mal ins Geschichtsbuch! Dann würden Sie nicht so einen Unsinn erzählen! – Zurufe von Burkard Dregger(CDU), Holger Krestel (FDP )und Paul Fresdorf (FDP)]
In diesem barbarischen Akt waren sich die Europäer in ihrem Agieren nach außen völlig einig – um dann 1871, 1918 und 1933 wieder übereinander herzufallen, mit unendlich vielen Toten. Diese Einigkeit nach innen, die von gemeinsamen Geschäftsinteressen bestimmt ist, ist etwas ganz anderes als die vielbeschworene und gefeierte europäische Idee. Hüten wir uns, das zu verwechseln oder – noch schlimmer – in eins zu setzen!
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN –Beifall von Frank Jahnke (SPD)]
Die Europa-Union hat uns in der Ausschusssitzung am 21. April einen Änderungsvorschlag für die Formulierung der Verfassungsänderung vorgelegt, der ich sehr viel abgewinnen kann. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Berlin wirkt darauf hin, die Eigenständigkeit und Zusammenarbeit der Städte und Regionen zu wahren und zu fördern, deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen zu sichern und –das ist jetzt das Neue – Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden. Trennendes in Europa und der Welt zu verbinden, das sollte das Ziel der Berliner Europapolitik sein. Nur so macht diese Verfassungsänderung wirklich Sinn. Als eine Stadt, die ihre Wiedervereinigung auch dem Zusammenwirken europäischer Politik verdankt, sind wir in der Pflicht, davon etwas weiterzugeben. Als Stadt, die relativ weit östlich in Europa liegt, sind wir aber auch nahe dran an den Nachbarn, die die sogenannten europäischen Werte ablehnen und verächtlich machen. Polen versteht sich als Hort des christlichen Abendlandes und verbietet den Frauen mit dem Verbot von Abtreibungen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
[Franz Kerker(AfD): Und was ist mit dem Wert des ungeborenen Lebens? Das ist Ihnen wohl egal!]
Offensichtlich ergeben sich Frauenrechte nicht automatisch und urwüchsig aus der europäischen Kultur. Sie sind hart erkämpft und werden im Nachbarland gerade kassiert. In Berlin gab es natürlich viele Solidaritätsaktionen mit den polnischen Frauen. – Gleiches gilt für die Rechte queerer Menschen. Auch diese sind so wenig automatisch europäisch, dass Ungarn seine europäische Identität geradezu dadurch definiert, sie abzulehnen. Diskriminierung, Verachtung, Ausgrenzungen werden mit der vorgeblich eigenen Kultur begründet. Auch hier hat Berlin, die Regenbogenhauptstadt, die Aufgabe, laut zu werden, einzufordern, zu protestieren, wo immer das auf der europäischen Ebene möglich ist.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Raed Saleh (SPD)]
Die Koalition ist in dieser Legislaturperiode von Berlin aus im Bund vorangegangen, um die europäische Säule sozialer Rechte zu stärken und Europa Schritt für Schritt auch zu einer Sozialunion machen zu können. Da würde noch viel mehr gehen, wenn das auch auf der Bundesebene Konsens wäre. – Wir bekämpfen die Arbeitsausbeutung in der Stadt, die mit der europäischen Freizügigkeit einhergeht und von der besonders die größte europäische Minderheit, die Roma, betroffen ist. – Wir haben ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet, weil die europäischen Werte hier wirklich für alle gelten sollen. Nun sind sie auch einklagbar.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Bettina Domer (SPD)]
Wir müssen zukünftig noch mehr die EU-Städteagenda nutzen, um noch stärker den Austausch und die Kooperation, besonders im Bereich des Klimaschutzes, der Kreislaufwirtschaft und der Energiewende, zu suchen. Der Klimawandel bringt uns die Folgen unserer europäischen Lebensweise und unseres europäischen Wirtschaftens direkt vor die eigene Haustür: Hitze, Trockenheit, die Coronapandemie. Wir können ihn daher auch von Berlin aus nur europäisch bekämpfen. Die Änderung der Verfassung ist der Auftrag, dass sich Berlin auf allen möglichen Wegen gestaltend in ein Europa einbringt, das gut für seine Bürger und Bürgerinnen ist, unabhängig davon, wo sie herkommen, und gut auch für die anderen Kontinente. Die für Europa engagierten zivilgesellschaftlichen Organisationen verlangen das von uns in der Politik. Ich bin sicher, dass auch die Forderungen der Zukunft der Konferenz Europa, mehr Klimaschutz, mehr globale Gerechtigkeit und ein Umsteuern nach der Coronapandemie sein werden. Wir nehmen den Auftrag, den die Verfassungsänderung bedeutet, gerne an und stimmen ihr zu.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN –Vereinzelter Beifall bei der SPD)]
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